Fremdsprachenerwerb: Was Hänschen nicht lernt ...

... lernt Hans nur mehr sehr viel schwerer und mühsamer...

... und erreicht nie das Niveau dasselbe Niveau.

 

 

Wer mit einer Fremdsprache vor dem 4. Geburtstag beginnt, hat gute Chancen, im späteren Leben ein Sprachniveau zu erreichen, das dem eines mutter-sprachlichen Spr-echers sehr nahe kommt. Man bezeichnet dieses Sprach-niveau auch als "near native speaker". Das Kind nimmt auch den Sprach-unterricht im Rahmen des Schul-unterrichts anders wahr und kommt mit geringerem Aufwand zu einem besseren Ergebnis. Das rührt daher, weil dieser Lernende in der Fremdsprache und nicht in der Muttersprache denkt und nicht nur einzelne Vokabeln, sondern ganze Sprachkonzepte wie selbstverständlich übernimmt.

Beginnt der Zweitsprachenerwerb zwischen dem 4. und 10. Lebensjahr, so können auch noch sehr gute bis gute Ergebnisse erzielt werden. Es ist allerdings in dieser Lernsituation besonders darauf zu achten, dass komplexe Konstruktionen und nicht nur einzelne Wörter vermittelt werden. Die Kinder nehmen das im Normalfall gut auf und entwickeln ihre Fremdsprachenkenntnisse dementsprechend.

Kommen Kinder allerdings erst nach dem 10. Lebensjahr mit einer Fremdsprache in Berührung, haben sie große Schwierigkeiten, sich andere Sprachkonstruktionen auch nur vorzustellen, geschweige denn anzuwenden. Warum sitzt der Engländer "im Baum" und nicht "auf dem Baum"? Und warum darf ich nicht einfach "become" verwenden, wenn ich "bekommen" meine? Diese Dinge sind schwerer zu verstehen, je später jemand beginnt, eine Sprache zu lernen. Durch sehr intensives Training können Defizite langfristig schon ausgeglichen werden, aber diese Art von Lernen macht halt lange nicht so viel Spaß wie das spielerische Eintauchen, das eine Fremdsprache ganz selbstverständlich macht.

Kommunikation und Sprache:

ein wichtiger Unterschied

Die Sprache ist eines jener Merkmale, die den Menschen einzigartig macht. Tiere verfügen zwar über ein Kommunikationssystem, aber nicht über eine Sprache. Sie können einander mitteilen, wo es geeignetes Futter gibt, dass Gefahr droht oder dass sie einem Artgenossen positiv oder negativ gesinnt sind. Das ist Kommunikation, also Verständigung untereinander. Sie können aber nicht mitteilen, dass sie gestern eine tolle Futterquelle gefunden haben. Dafür braucht man ein System, das verschiedene Zeitstufen hat (Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft). Und das ist genau der Unterschied zwischen Kommunikation und Sprache. 

 

Der Mensch verfügt über eine Sprache und nicht nur über ein Kommunikationssystem. Wir können losgelöst von der konkreten Situation eine Welt in unserer Vorstellung erschaffen, basierend auf Wörtern, deren Bedeutung innerhalb der Gruppe eindeutig ist. Auf diese Weise werden wir zu einer großen Gruppe und können unsere Kräfte bündeln und damit Leistungen vollbringen, die dem einzelnen unmöglich wären. Kein Mensch kann alleine ein Haus bauen. Aber wenn er seine Pläne anderen mitteilt und alle zusammen helfen, dann ist das möglich. Die Sprache ist also eines unserer wichtigsten Werkzeuge. Sie macht einzelne Menschen zu einer starken Gruppe. Das wiederum verbessert die Chancen für jeden einzelnen, was immer er auch tun möchte.

 

Die Sprache ist also ein wesentliches Element jedes Menschen. Je besser er damit umgehen kann, desto erfolgreicher wird er sich in seiner Umgebung bewegen und seine Ziele durchsetzen können. Es ist daher wichtig, Kinder bestmöglich bei der Entwicklung ihrer sprachlichen Entwicklung zu unterstützen. Der Begriff Muttersprache kommt nicht von ungefähr. Bereits von ihrem ersten Lebenstag an nehmen Babys die Worte ihrer Mutter war. Das Gehirn nimmt die Laute auf und beginnt sofort, sie zu verarbeiten. Die Sprechwerkzeuge (Lippen, Zunge, Kiefer) beginnen sich den Lauten anzupassen und so kommt es, dass im Alter von sechs Monaten französische Kinder bereits anders brabbeln als deutschsprachige oder spanische. Die Grundlaute werden ausgebildet, die Sprechwerkzeuge werden anatomisch in Position gebracht, die noch weichen Knochen und Knorpel festigen sich in bestimmten Positionen und schaffen optimale Voraussetzungen für die später einsetzende Aussprache. Mit spätestens vier Jahren wird dieses Kind seine Muttersprache akzentfrei sprechen. Die Wörter, die es dann aussprechen wird, entnimmt es seiner Umgebung. Aber es gilt natürlich, dass es umso mehr Wörter sprechen wird, umso mehr ihm vorgesagt, vorgelesen oder vorgesungen wurden. 

 

Der Erwerb der Muttersprache geht also scheinbar fast von alleine. Das Kind lebt in einer bestimmten sprachlichen Umgebung und übernimmt alles wie von alleine. Der Erwerb einer weiteren Sprache ist da meist schon sehr viel mühsamer. Die Wörter "Lust" und "Spaß" kommen da schon wesentlich seltener vor. Das Lernen von Fremdsprachen wird oft mit so unangenehmen Dingen wie Vokabellernen, Grammatikregeln und generell harter Arbeit verbunden. Zudem kommt die ständige Angst, etwas falsch zu machen und sich zu blamieren, Eine Mischung, die nicht selten in Frustration endet. Die in regelmäßigen Abständen veröffentlichten Zahlen über Nachhilfestunden sprechen eine eindeutige Sprache. Doch warum fällt älteren Kindern etwas so schwer, was Babys und Kleinkinder scheinbar so mühelos können?

 

Das verflixte 10. Lebensjahr

Es ist tatsächlich so, dass das Alter eine wesentliche Rolle beim Erwerb einer zweiten Sprache spielt. Je nach Alter unterscheidet man unterschiedliche Arten von Fremsprachenerwerb. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen kindlichem und erwachsenem Zweitsprachenerwerb. Entscheidend ist der Beginn des Erwerbs einer Fremdsprache. Und her wiederum ist das zehnte Lebensjahr ein entscheidender Wendepunkt, denn nach dem zehnten Lebensjahr - ungeachtet der Tatsache, dass das Kind zu diesem Zeitpunkt noch nicht biologisch erwachsen ist - spricht man von erwachsenem Zweitsprachenerwerb.

Ab etwa diesem Alter sind die Strukturen in der Erstsprache gefestigt. Und genau das ist das Problem für den Zweitsprachenerwerb. Denn wenn der Kontakt mit der Zweitsprache erst nach diesem Zeitpunkt erfolgt, werden Strukturen aus der Erstsprache in die Zweitsprache übertragen. Und das führt zu einer ganz bestimmten Art von Fehlern, die nur sehr schwer zu bereinigen sind. Man spricht von sogenannten Transferfehlern, weil Strukturen aus der Erstsprache in die Zweitsprache transferiert werden und sich dort störend auswirken. 

Eine derartige Struktur ist zum Beispiel die Satzstellung. Im Deutschen ist es durchaus üblich, eine Zeitangabe in die Mitte des Satzes zu stellen:

                        z.B: Ich besuche morgen meinen Freund.

Im Englischen muss die Zeitangabe aber am Anfang oder Ende eines Satzes stehen, niemals in der Mitte:

                        z.B.: I visit my friend tomorrow.  oder Tomorrow I visit my friend.

Es darf niemals heißen:

                        I visit tomorrow my friend.*

In diesem Satz ist eine Struktur aus dem Deutschen ins Englische übertragen worden. Er klingt deshalb so unbarmherzig unenglisch, dass er in allen halbwegs trainierten Ohren schmerzt.

Noch dazu kommt, dass man im Englischen noch etwas anderes in diesen Satz einbauen würde. Jeder Engländer oder Amerikaner würde sagen:

                      I am going to visit my friend tomorrow.

Die going to-Form bzw. alle ing-Formen (progressive oder continuous tenses) ist eine Struktur, die wir im Deutschen überhaupt nicht haben, im Englischen aber sehr wichtig ist und sehr viele inhaltliche Nuancen ermöglicht. Um sich diese Ausdrucksformen zu erschließen, reicht es aber nicht, Vokabeln zu lernen und dann deutschsprachige Sätze zu übersetzen. Dafür muss man auf Englisch denken und die zur Verfügung stehenden Strukturen verwenden. Man muss in die Sprache eintauchen und sich darin bewegen.

 

Der magische Moment: drittes bis viertes Lebensjahr

Das funktioniert aber nur, wenn man rechtzeitig damit beginnt. Der ideale Zeitraum ist jener zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr. Beginnt der Spracherwerb zu diesem Zeitpunkt, "dann gleicht der Spracherwerb in vielerlei Hinsicht dem Spracherwerb einsprachiger und simultan bilingualer Kinder und ist oft auch genauso erfolgreich", wie Tobias Ruberg ausführt. Durch den Beginn in diesem Zeitraum erreicht das Sprachwissen in der Fremdsprache in seiner endgültigen Stufe ein höheres Niveau und die Fehler, die gemacht werden, erscheinen bei weitem nicht so störend wie bei Personen, die erst nach dem zehnten Lebensjahr mit dem Erwerb der Fremdsprache beginnen. Es gibt praktisch keine Transferfehler und der Sprecher bewegt sich sicher auf dem fremdsprachlichen Terrain. Auf jeden Fall ist es ein wesentlich lustbetonteres, angstfreieres Lernen, das weniger mit Vokabelbüffeln und Grammatikregeln assoziiert wird, sondern mit der Freude und der Neugier an der neuen Sprache.

 

Zusammenfassend kann man sagen, dass der optimale Zeitpunkt für den Beginn des Erwerbs einer Fremdsprache vom ersten bis zum vierten Lebensjahr reicht. Je näher der Beginn dem zehnten Geburtstag kommt, desto schlechter werden die Voraussetzungen und desto mehr Energie muss investiert werden, um die Nachteile auszugleichen. Ab dem zehnten Lebensjahr kann man davon ausgehen, dass die Fähigkeiten in der zweiten Sprache auf einem niedrigen Niveau stagnieren werden. Ausnahmen bestätigen natürlich wie überall die Regel. Aber es muss schon ein sehr intensiver Kontakt mit der Fremdsprache stattfinden - idealerweise ein längerer Aufenthalt im betreffenden Land - damit diese Defizite ausgeglichen werden können.

Dass das österreichische Regelschulsystem just nach dem zehnten Lebensjahr mit der Vermittlung einer Fremdsprache beginnt, ist angesichts dieser Forschungsergebnisse eine traurige, aber leider unverrückbare Tatsache. Die Probleme sind im Schulalltag stets gegenwärtig.

Wenn ein dreizehnjähriger Schüler bei seiner Nachprüfung meint, I went ON the beach dann ist offensichtlich, dass er auf Deutsch denkt, wo man tatsächlich AN den Strand geht. Der Engländer sagt aber I went TO the beach. Das Problem dieses Kindes ist es nicht, zuwenig Vokabeln oder Grammatik gelernt zu haben. Er denkt auf Deutsch und überträgt Wort für Wort. Und das tut er, weil er zu spät mit der Fremdsprache in Berührung gekommen ist. Das ist nicht seine Schuld, aber sein Problem. Und das ist in diesem Alter nur sehr schwer zu beheben.

 

Die Liste mit derartigen Beispielen lässt sich beliebig fortsetzen. Eine wichtige Struktur im Englischen sind zum Beispiel die Fragebildung und die Verneinung. Bilden wir im Deutschen die Frage einfach durch Änderung der Wortstellung, muss im Englischen oft ein do, does oder did eingefügt werden. Allerdings nicht bei allen Fragen, nämlich nicht bei jenen, die ohnehin ein Hilfszeitwort enthalten. Und das macht die Sache nicht gerade einfacher.

 

Dazu ein paar Beispiele:

Deutsch:            Ich gehe heute einkaufen.               Gehst du heute einkaufen?               Ich gehe heute nicht einkaufen.    (Änderung der Wortstellung)

Englisch:           I go shopping today.                          Do you go shopping today?              I don´t go shopping today.             (Einfügen von do/ don´t)

Deutsch:           Ich bin 8 Jahre alt.                              Bist du 8 Jahre alt?                             Ich bin nicht 8 Jahre alt.                  (Änderung der Worstellung.)

Englisch:           I am 8 years old.                                 Are you 8 years old?                          I am not 8 years old.                        (Hilfszeitwort bereits vorhanden)

 

Gerade diese Einfügen von do ist für uns Deutschsprachige sehr ungewohnt. Niemand würde auf Deutsch eine Frage bilden wie "Tust du heute einkaufen gehen?" (zumindest nicht in der Hochsprache!). Insbesondere für ältere Lernende ist es sehr schwer, sich an diese Struktur zu gewöhnen. Viel Übung ist notwendig und Fehler passieren trotzdem immer wieder. Hat ein Kind diese Struktur allerdings schon in  im Kindergartenalter in Form von Spielen kennengelernt, ist das selbstverständlich und Fehler kommen praktisch nicht vor.

 

Das gesamte englische Zeitensystem ist ein weiteres Beispiel für unterschiedliche Strukturen. Komplett anders aufgebaut als im Deutschen, wo es keine ing-Formen gibt, kann man die meisten Sätze nicht Wort für Wort übertragen, sondern muss den Sinn in die andere Struktur umwandeln.

Im Englischen heißt es zum Beispiel:

                              I am reading a book.

Im Deutschen lautet dieser Satz:

                              Ich lese gerade ein Buch.

Spätstarter kommen oft mit der Frage: "Was heißt 'gerade' auf Englisch?" und sind dann restlos verwirrt, wenn man ihnen erklärt, dass das Wort 'gerade' in der ing-Form steckt, die ausdrückt, dass man etwas gerade jetzt macht.

 

Noch offensichtlicher wird das Problem, wenn man beispielsweise versucht, folgendes auf Englisch auszudrücken:

                             Warst du schon einmal in London?

"Was heißt 'schon' auf Englisch?" ist eine Frage, die man als Englischlehrer in der AHS gerade von zehnjährigen Schülern, die noch nie mit der Fremdsprache in Berührung gekommen sind, oft gestellt bekommt. Ein Vorschulkind hat mich das noch nie gefragt, weil es noch nicht so sehr an dieser typisch deutschsprachigen Struktur klebt. Alleine dieses Beispiel zeigt den extremen altersbedingten Unterschied beim Erlernen einer Zweitsprache und die damit verbundenen Vor- und Nachteile.

Aber zurück zur Übersetzung des Wortes 'schon'. Auf diese Frage gibt es keine Antwort. Die englische Entsprechung dieses Satzes lautet

                              Have you ever been to London?

Das 'schon' steckt in der Verwendung der richtigen Struktur, in diesem Fall in der Verwendung der present perfect tense simple, Es bringt gar nichts, wenn man im Wörterbuch nachschaut und versucht herauszufinden, wie man 'schon' übersetzt. Man wird nur eine lange Liste von Wörtern finden, deren Verwendung insbesondere für Lernende völlig unklar ist. Man muss eben mit den entsprechenden Konzepten und Strukturen vertraut sein, und das ist ganz schön schwer, wenn man mit sprachlichen Werkzeugen arbeitet, die einfach nicht geeignet sind. 

 

Was Hänschen nicht lernt, .... lernt Hans sehr viel mühsamer und trotzdem nicht so perfekt

Um wieviel leichter haben es da jene Kinder, die bereits im oder vielleicht sogar vor dem Kindergartenalter mit der Fremdsprache in Kontakt gekommen sind. Für sie ist das alles selbstverständlich, weil sie nicht nur auf der Ebene der Vokabeln in die andere Sprache umschalten, sondern auch auf jener der Strukturen. Sie haben schon mit drei Jahren so oft Sätze gehört wird

                  The dog is eating a bone.

                  The girl is dancing and singing.

                  The crocodile is chasing after us.

                  I am wearing a red T-shirt.

dass sie gar nicht auf die Idee kommen, das Wort 'gerade' übersetzen zu wollen. Das würde sie nur in ihrem Redefluss stören. 

Im Erwachsenenalter werden sie deshalb ein wesentlich höheres Niveau in der Fremdsprache erreichen. Und dabei werden sie noch eine Menge Spaß gehabt haben und sehr viele Erfolgserlebnisse, weil sie spüren, dass sie sich auch in der zweiten Sprache sehr gewandt bewegen können und alle Situationen meistern. Und das Vokabellernen ist dann eigentlich gar nicht mehr schlimm.

Die Grafik stellt den Zusammenhang zwischen Lebensalter und dem Beginn des Zweit-spracherwerbs dar. Man unterscheidet zwischen kindlichem und erwachsenem Zweitspracherwerb, wobei die Grenze das 10. Lebensjahr ist. Je früher mit dem Erlernen der zweiten Sprache begonnen wird, desto besser ist das endgültige Ergebnis. Im Idealfall erreicht man einen near-native-Status, was dem sprachlichen Können eines Erstspracherwerbs sehr nahe kommt. Beginnt der Zweitspracherwerb allerdings nach dem 10. Lebensjahr, treten gehäuft Transferfehler auf, die nur sehr schwer zu bereinigen sind. Generell erreicht diese Lerngruppe kein so hohes Niveau wie die andere Gruppe, außer es findet ein extrem intensiver Kontakt mit der Fremdsprache statt, idealerweise ein längerer Aufenthalt im betreffenden Land.